Merkt der Fisch im Wasser, dass er nass ist?

Womit wir räumlich und zeitlich unterschiedslos umgeben sind, fällt uns nicht auf. Wir reagieren mit unserer Wahrnehmung, mit unserem Denken, Fühlen, der Stimmung, mit unserem ganzen geistigen Apparat auf Veränderungen. Das immer Gleiche hat für unser Bewusstsein keine Bedeutung, es erfordert keine Reaktion und die Perzeption brächte keinen Selektionsvorteil in der Entwicklungsgeschichte.

Die Veränderung fällt uns auf. Das ist schon bei taktilen Reizen so. Bewegung auf der Haut, beispielsweise, wird stärker wahrgenommen, als gleichbleibender Druck. Die Veränderungen im Vermögen, plötzlicher Wohlstand oder unerwartete Armut, sind weit eher spürbar, als eine Beständigkeit der Verhältnisse.

Ebenso ist es mit dem Erstaunlichen. Es wird nicht im Alltäglichen gesehen. Das Besondere, das Großartige, das Göttliche wird im Wunder bemerkt. So erwartet die katholische Kirche noch heute bei der Heiligsprechung bewiesene Wunder.

Diese Wunder erscheinen mittlerweilen unglaubwürdig und geringfügig, verglichen mit den erstaunlichen Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Zudem behaupten die Wunder die Strukturen (Regelmäßigkeiten, Theorien und Gesetze) der Alltagserfahrung und auch des naturwissenschaftlichen Weltbildes außer Kraft zu setzen.

Die Naturwissenschaften, die Mathematik und andere Geisteswissenschaften, die Kunst, das „Abenteuerliche“ im Leben, der Ausbruch aus dem Gewohnten und Vertrauten, das Durchbrechen der „Komfortzone“, bringen andere Sichtweisen und überschreiten die Alltagserfahrung. 

Das Wunder wird in diesen Ausbrüchen über die Alltagserfahrung, über das gewohnte Einerlei hinaus glaubwürdig erfahrbar. Damit können traditionelle religiöse Wundergeschichten nicht konkurrieren. Sie verblassen, sind unglaubwürdig und abstrus.

Das Bedürfnis nach dem Außergewöhnlichen, dem Wunderbaren ist legitim und findet auf moderne Art seine Befriedigung.

 

Beschluß.

     
  33 Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender      
  34 Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken      
  35 damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das      
  36 moralische Gesetz in mir. 

[I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, (AA V), Seite 161]

Edward O. Wilson schreibt in seinem Buch über die Einheit des Wissens, dass die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung endlos mehr Grandeur besitzen, als die Wundergeschichten der Religionen. Ich glaube er benutzte dieses Wort „Grandeur“, leider finde ich gerade das Buch und die Stelle nicht – wieder ein guter Grund für digitale Bücher, am besten in der Wissenswolke, der cloud.

In der Tat ist der Unterschied naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu unserer Alltagserfahrung noch viel gewaltiger, als wenn Jesus Christus Blinde sehen macht, über Wasser geht, oder Lahme zum Laufen bringt. Den Wesentlichen Punkt des Wunderbaren, den Unterschied zum Gewohnten, beschreibt Wilson nicht. Auch nicht den Wunsch und den Grund des Bedürfnisses der Menschen nach dem Erhabenen, dem Außergewöhnlichen und Göttlichen.