arbeiterkunst

Was mich zunächst doch immer wieder wundert, ist das Fehlen der normalen Arbeitswelt als Sujet der Kunst, wie auch der Unterhaltungsbranche.

Die Heldinnen und Helden tun alles Mögliche, nur sie werden nicht ausführlich bei einer ganz normalen Erwerbstätigkeit dargestellt. Und die Arbeit ist es doch, die einen großen Teil des Alltags bei den meisten Erwachsenen ausmacht. Warum ist sie dann nicht Thema in Kunst, Kultur und Unterhaltung?

Ist die Arbeit zu unangenehm? Ich denke nicht. Und zudem sind viele Themen der hohen und trivialen Kunst nicht angenehm. Es geht um Verbrechen, Krieg, Krisen und viellerlei mehr Konflikte und Probleme. Nur der Arbeitsalltag beleibt ausgespart. Er ist der weiße Fleck auf der Landkarte der Kunst, die terra incognita.

Ist der Alltag überhaupt „kunstfähig“, bedarf es für die Kunst außeralltäglicher, besonderer und spannender Ereignisse, die uns gerade aus dem Alltäglichen herausführen?

Wohl kaum, denn Kunst ist nicht so sehr am Inhalt, wie an der Form, an der gelungenen Art und Weise der Darstellung festzumachen. Und die Vielschichtigkeit der Arbeitswelt böte bei genauer Betrachtung genügend Stoff.

Außergewöhnliche Ereignisse passieren auch im Erwerbsleben und zudem sollte Kunst nicht im Sinne der Flucht, des Eskapismus aus dem Leben heraus führen, vielmehr sollte sie, wenn auch bisweilen über Umwege, das Verständnis für unser Leben bereichern und somit weiter in unser Leben hineinführen.

Kunst ist in einem leicht hinterhältigen Sinn eine „Einführung ins Leben“.

Diese Formulierung, z. B. „Einführung in die Algebra“, lässt nämlich zunächst ein unschuldiges und langsames Heranführen an die Sache vermuten. Aber hinter diesen harmlos und propädeutisch wirkenden Titeln verbirgt sich dann in der Tat, zumindest bei wissenschaftlichen Lehrbüchern, die ganze Thematik selbst und nicht nur ein behutsames Hinführen.

In diesem Sinne, der Darstellung des Ganzen, ist die Kunst, auch erzieherisch für alle Altersgruppen eine Einführung ins Leben. Sie ist nicht und soll nicht eine Wegführung vom Leben sein. Eine Flucht aus der Lebenswelt ist nicht Kunst, sondern Kitsch, ist nicht eine Klärung des Verständnisses der Realität, sondern Eskapismus, ist Verneblung, ist Droge, ist Flucht aus der Wirklichkeit.

Somit gilt der Appell und das Ziel: hinein ins Leben, hinein in die Arbeit und hinein in die künstlerische Darstellung der Arbeitswelt.

Ein Hürde mag sein, dass Künstler keiner üblichen Erwerbsarbeit nachgehen. Sie benötigen die Zeit, die „Muße“ für die Kunst. Aber darin besteht die Forderung an wirkliche Kunst, sich in das Hineinzuversetzen, was man selbst nicht authentisch erlebt hat, nicht nur Autobiographisches hervor zu bringen, nicht im Stil eines Tagebuches zu verharren, es sei denn das Tagebuch wird von einer ganz anderen Person geschrieben, und es handelt sich somit nicht um eine authentisches, sondern um ein fiktives Journal.

erfunden

Warum sind erfundene Geschichten so erfolgreich, so beliebt? Warum lesen oder sehen die Menschen nicht lieber ausschließlich realistische Darstellungen?

Ein möglicher Grund scheint mir, dass erfundene Geschichten, gleichnishafte Erzählungen, Phantasiebilder, zum Nachdenken anregen. Sie provozieren den Vergleich mit der Realität. Und über diesen Bezug auf das was wirklich ist, fördern sie das eigene Nachdenken über die Wirklichkeit.

Ein weiterer Erfolgsfaktor dürfte damit zusammen hängen. Es ist die vielfache Anwendbarkeit auf ganz unterschiedliche reale Situationen. Da die fiktive Darstellung sich nicht auf eine realistische Situatuation bezieht, ist sie vielseitig, an unterschiedlichen Orten, zu verschiedenen Zeiten, bedeutend. Das funktioniert, weil der Rezipient seine jeweilige Realität anhand der Fiktion in seiner Vorstellung selbst erzeugt. Das Hirn des Lesers oder Betrachters erzeugt die Aktualisierung und die Lokalisierung. 

In die entgegengesetzte Richtung läuft allerdings der Eskapismus, die Wirklichkeitsflucht durch erfundene Darstellungen. Aber selbst diese ist eine, wenn auch negative, Auseinandersetzung mit dem was ist.

welt und scheinwelt

Das Fernsehen, Filme, Unterhaltungsliteratur bauen eine Scheinwelt auf, in die sich das Publikum flüchten kann. Das ist gefährlich, denn diese Scheinwelt verhindert das Verständnis der wirklichen Welt. Die Realitätsflucht erschwert das Bestehen in der Realität.

Fähigkeiten verkümmern, die in einer Fernsehwelt nicht geübt werden. Kinder werden unsportlich, besitzen weniger räumliche Koordination, die Sprachkompetenz nimmt ab und die Fähigkeit zum Zwischenmenschlichen ist schwächer entwickelt.

Kurz, diese Scheinwelten machen dumm, dick, lebensuntüchtig und führen zu weniger Nachkommen. Die Scheinwelten mutieren ihre Opfer zu evolutionären Blindgängern.

Information, Kunst ist dann gut, wenn sie das Verständnis unserer wirklichen Lebenswelt stärkt. Evolutionsbiologisch gesehen, ist die Darstellung von Welt oder von Phantasiewelten dann gut, wenn sie zu Erhalt, Wachstum und Vermehrung führt.

Frank Schirrmacher ist u.a. ein Prophet dieses Themas.